REISEBERICHT | ST. PETERSBURG | KONFERENZ „KREATIVE STÄDTE“

REISEBERICHT | ST. PETERSBURG | KONFERENZ „KREATIVE STÄDTE“

 

05:10 Uhr im Taxi zum Flughafen. Die Sonne geht auf, St. Petersburg schläft noch, der sich durch die Straßen kämpfende Taxifahrer irgendwie auch. Phil Collins dudelt im Radio »Another day in paradise«. Während der Gute zum großen musikalischen Finale ansetzt, meine ich ein Dé­jà-vu zu haben. Genau solch eine Taxifahrt, mit der gleichen »trashigen« Musik im Radio, den gleichen an uns vorbeiziehenden Shops und Malls, haben wahrscheinlich viele Reisende nach einem mittelprächtigen Hotel-Kaffee auf der ganzen Welt schon genossen. Und dann stelle ich etwas angenervt fest: nach dem Besuch von 12 »creative spaces« und »creative clusters« in St. Petersburg, bleibt oft nur das gewohnte Bild von stylischen Lagerhallen mit revitalisierten Büroräumen und Heizlüftern zurück. Sie alle werden oder sind die Heimat der kreativen Szene, sehen jedoch irgendwie alle gleich aus und fühlen sich gleich an. Mich beschleicht die Angst, dass »creative spaces« die »hausgemachte Limo, serviert im Einmachglas« der super hipen Gastro-Betriebe auf der ganzen Welt geworden sind. Überall sehen die Einmachgläser nur minimal anders aus.

Creative Space

In St. Petersburg habe ich das gerade eröffnete »ARTPLAY« kennen gelernt. Ein 100.000 qm Gelände, mitten in einem heruntergekommen Stadtteil, das innerhalb von kürzester Zeit in Büro- und Veranstaltungsfläche umfunktioniert wurde – in einen »Creative Cluster«, so sagen die Besitzer. Die Macher kommen aus Moskau, haben dort bereits erfolgreich ein Gelände »revitalisiert«, die Investoren stammen aus der ganzen Welt. Künstler, Modelabels, Veranstalter und generell jede/r, der/die sich selber zur kreativen Szene zählt, ist eingeladen Büros zu mieten und an den tollen Synergieeffekten teilzuhaben. Diese entstehen durch die Kristallisation so vieler Kreativer quasi von alleine – auch das wird von den Machern als gesetzte Tatsache kommuniziert. Die Gründer des ARTPLAY SPB gehen ganz offen damit um, dass das Vermieten und Entwickeln des Geländes für sie ein reiner Business Case ist. Sie bedienen sich der kreativen Szene. Wo die erwirtschafteten Gewinne hinfließen, wollen die beiden nicht sagen – offensichtlich nicht in die nachhaltige und kleinteilige Entwicklung der Stadt St. Petersburg, denke ich.

ARTPLAY funktioniert in Moskau, dann wird das auch genauso in SBP funktionieren. Ist das schlimm? Ist das verwerflich? Aus wirtschaftlicher Sicht wahrscheinlich nicht. Aber für mich ist das ein liebloses Einmachglas und hat wenig mit einem organisch gewachsenen Kreativort zu tun. Ein bisschen wie Phil Collins im Taxi-Radio eben.

 

Kreative Cluster können für ein Quartier, für eine Stadt, für eine Region so viel mehr sein, als einfache Konglomerate von Galerien und Showrooms. Orte, Flächen und Gebäude haben eine Geschichte. Macher, die sich mit dieser beschäftigen und die Vergangenheit in die Identität der entstehenden creative spaces einbauen, können historische, urbane Zusammenhänge nutzen und davon profitieren.

So oder so. In Sankt Petersburg tut sich einiges. Die kreative Szene ist agil und umtriebig. Am laufenden Band sprießen kleine Orte für Kreative aus dem Boden. Oft mieten die Macher alte Sowjetbauten an und werden bei wirtschaftlichen Projekterfolg schlicht rausgeworfen. Die Eigentümer lassen sich gut laufende Geschäftsmodelle eben nicht gerne durch die Finger gehen. Eigentlich, die gleichen Probleme wie wir sie in Deutschland haben, mit dem kleinen Unterschied, dass es keine drei-monatige Kündigungsfrist gibt. In SPB kommen von dem einen auf den anderen Tag private Wachdienste und vertreiben die Kreativen aus den Orten, in die sie viel Zeit und Geld investiert haben.

Einen dieser Orte haben wir besucht. Heute ein schickes hochglanz Bürogebäude, an TV-Produktionsfirmen, Softwareentwicklern und Rechtsanwälte vermietet, war diese alte Fabrikhalle noch vor einem Jahr ein vitaler Ort, gefüllt mit Ateliers, Bühnen für Diskussionsrunden und Kulturveranstaltungen. Die Lage der Halle, direkt in einem heute sehr heruntergekommen Stadtteil, der schon seit Ewigkeiten Heimat eines unüberschaubaren illegalen Straßenmarkt ist, hatte dem Ort zu einem Diskursraum für Stadttransformation gemacht. Er war ein Magnet für kreative, die Wege und Methoden entwickelten, diesen Stadtteil aufzuwerten und attraktiv zu machen. Bei Jugendlichen und Alternativen war das Kulturprogramm und die beiden Cafés sehr beliebt und hoch frequentiert, obwohl der illegale Straßenmarkt und der Stadtteil von Einheimischen seit Jahren gemieden wird. In einer Nacht- und Nebelaktion vertrieb der Eigentümer die Kreativen unter Zuhilfenahme von Gewalt. Der Charme und der gesellschaftstheoretische Überbau fanden beim Eigentümer keine Beachtung und wichen 0815 Büros. Die Aufbruchsstimmung in dem Stadtteil ist seitdem nicht mehr zu spüren.

Die russische Regierung will die Kreativwirtschaft fördern, das belegen zahlreiche Förderprogramme. Jedoch schleicht sich schnell das Gefühl ein, dass der Diskurs über Fragen wie »Was ist eigentlich Kreativwirtschaft«, »Was macht sie zu einem besonderen Wirtschaftszweig«, »Welche Förderansprüche haben die Kreativen überhaupt« dem in Deutschland und der EU geführtem um Jahre hinterherhinkt. Nicht, dass Deutschland eine optimale Förderumgebung für Kreativwirtschaft vorzuzeigen hat, dennoch gibt es immer mehr Netzwerke und Plattformen, die dem Wirtschaftszweig politisches Gewicht geben wollen.

Auf der von dem Goethe Institut organisierten Konferenz zu Creative Spaces, auf der ich Utopiastadt vorstellen durfte, ist mir persönlich eines ganz klargeworden: Unternehmer und Kreative dürfen sich nicht hinter dem Wort »kreativ« verstecken.

Die Akteure der Kreativwirtschaft in Sankt Petersburg haben sich auffällig oft in eine fast bettelnde Haltung begeben, fordern von der Stadt Unterstützung und beklagen, dass die Verwaltung nicht versteht, was sie eigentlich in den alten Lagerhallen veranstalten. Ja, Verwaltung und Politik müssen unterstützen und sich mit den Akteuren der Kreativwirtschaft auseinander setzten, aber sie sind uns nichts schuldig. Als Unternehmer in der Kreativwirtschaft, ist es unser Job ausgefeilte Konzepte zu erarbeiten, diese (auch wirtschaftlich) umzusetzen und einen Weg zu finden, wie Verwaltungsmitarbeiter und Politiker verstehen, welchen Mehrwert Kreativorte mit gesellschaftspolitischen oder wirtschaftlichen Ambitionen für eine Stadt haben können. Ich rege darum für einen Perspektivwechsel an: Anstelle eine fordernden Position gegenüber der Stadt einzunehmen und nach Bürgerbeteiligung zu rufen, sollten die Projekte so stolz und gut sein, sodass die Projektmacher in der Lage sind eine Verwaltungsbeteiligung anzubieten. Gut durchdachte, beharrliche Projekte mit Ambition und gesellschaftlicher und/oder wirtschaftlicher Wirkung sind in der Position, gemeinsam mit der Verwaltung und den Bürgern einer Stadt, Stadt zu gestalten – auf Augenhöhe und als gleichwertiger Partner. Das, und nicht weniger, sollte Ziel und Anspruch von Kreativort-Machern sein.

 

Zurück an der Büchertheke im Hutmacher, der Kneipe in Utopiastadt, bin ich dann erschöpft wieder einmal davon überzeugt: Utopiastadt ist und bleibt ein einzigartiger Ort. Einzeln betrachtet sind die vielen verschiedenen Module, die sich in Utopiastadt tummeln, vielleicht die Einmachgläser, gefüllt mit hausgemachter Limonade. Die Kombination, das Zusammenspiel und Zusammenwirken der einzelnen Projektmacher im alten Mirker Bahnhof hat jedoch einen besonders intensiven Diskurs über Stadttransformation und Bürgerengagement beflügelt. Während ausgedehnten Frage-Antwort Workshops, die Teil der Konferenz waren, wurde mir klar, wie unglaublich ausdifferenziert der gedankliche Überbau von Utopiastadt ist. TrassenRave und TrassenJam werden nicht einfach veranstaltet – die gesellschaftliche Wirkung und Bedeutung wird immer mitgedacht. Der UtopiastadtGarten ist nicht einfach ein Garten, sondern Reallabor für utopische Versorgungskreisläufe im urbanen Raum. Der kostenlose Fahrradverleih, UtopiastadtRad, ist nicht einfach ein Fahrradverleih, sondern trägt der Entwicklung hin zu der Fahrradstadt Wuppertal bei und nimmt ökologisch drängende Fragestellungen der Mobilität in Angriff. All das wird nicht nur gedacht, sondern aktiv kommuniziert, weshalb Verwaltung und Politik auf einmal verstehen, was in diesem alten, wunderlichen Bahnhofsgebäude eigentlich passiert.

Bei all dem, und auch das ist in St. Petersburg immer wieder diskutiert worden, ist Beharrlichkeit der Schlüssel zum Erfolg. 150 Utopisten und WuppertalerInnen haben täglich dutzende Ideen für neue Projekte und Vorhaben – es wimmelt nur so von Utopien. Die gut durchdachten, immer wieder auf Herz und Nieren geprüften, stichhaltigen Ideen, die mit viel Beharrlichkeit immer wieder auf den Tisch kommen, werden am Ende verwirklicht. Erfolgreich oder nicht. Und das gleiche mag wohl auch für Projektmacher in einer Stadt, außerhalb von Utopiastadt, gelten.

Der Los-Spruch der Utopisten beinhaltet nicht umsonst den utopisch-anmutenden Anspruch eine komplette Stadt zu bauen.

Wir bauen eine Stadt. Wir bauen Utopiastadt!

 

von Johannes Schmidt

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